Die Pharmaindustrie und das Gesundheitssystem haben über die letzten Jahrzehnte eine alarmierende Entwicklung durchlaufen, die weitreichende Folgen für die Gesellschaft und das individuelle Wohlbefinden hat. Bereits 2002 wurde im Ärzteblatt deutlich kritisiert, wie Menschen bewusst zu chronischen Patienten gemacht werden, um sie als kontinuierliche Einnahmequelle zu nutzen. Diese Praxis hat sich seitdem weiter verschärft.
Der Artikel aus dem Ärzteblatt von 2002 war ein bahnbrechender Beitrag zur journalistischen Aufklärung, der die systematischen Missstände im Gesundheitswesen schonungslos aufdeckte. Der Text argumentiert, dass Patienten absichtlich zu chronischen Kranken gemacht werden, um sie für die Pharmaindustrie und die Ärzte lukrativer zu machen. Diese Praxis verwandelt den Menschen in eine „Cash Cow“. Ein besonders aufschlussreicher Punkt ist der Wettbewerb, der zur Erschließung neuer Märkte zwingt. Dies führt dazu, dass immer mehr Menschen als krank eingestuft werden, was eine kontinuierliche Behandlung erforderlich macht.
Studien und Berichte unterstützen diese These. Ein bemerkenswertes Beispiel ist eine Untersuchung aus dem Journal of the American Medical Association (JAMA), die zeigt, dass mit der Zunahme schmerztherapeutischer Verfahren auch die Anzahl der Schmerzpatienten ansteigt . Dies geschieht, weil die erfolgreichen Therapien die Erwartungen und Rechtsansprüche auf Schmerzfreiheit steigern, wodurch selbst geringe Schmerzen als unerträglich empfunden werden. Dies führt zu einer übermäßigen medizinischen Behandlung, was die Patienten in einen Zustand ständiger Gesundheitsüberwachung und -optimierung versetzt. (Apkarian et al., 2006)
Apkarian, A. V., Baliki, M. N., & Geha, P. Y. (2006). Towards a theory of chronic pain. Progress in Neurobiology, 78(3-5), 313-322. Link zur Studie
Ähnlich verhält es sich mit der Diagnose und Behandlung von Depressionen. Eine Studie zeigt, dass sich die Zahl der wegen Depressionen behandelten Menschen in den USA von 1987 bis 1997 vervierfacht hat. Diese Zunahme ist vor allem auf aggressive Marketingkampagnen für Antidepressiva zurückzuführen, die oft dazu führen, dass Menschen unnötig als depressiv diagnostiziert werden und darunter leiden (Olfson et al., 2002) .
Olfson, M., Marcus, S. C., Druss, B., Elinson, L., Tanielian, T., & Pincus, H. A. (2002). National trends in the outpatient treatment of depression. JAMA, 287(2), 203-209. Link zur Studie
Der Text betont, dass Gesundheit ein Zustand ist, der sich dem bewussten Bemühen entzieht. Nach Hans-Georg Gadamer ist Gesundheit ein Zustand „selbstvergessenen Weggegebenseins“ an den Anderen oder das Andere im privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Leben. Diese natürliche Vitalität wird durch die moderne Gesundheitsgesellschaft untergraben, die darauf abzielt, alle Menschen zu Patienten zu machen.
Diese Dynamik hat schwerwiegende Folgen: Die übermäßige Fokussierung auf Gesundheit als höchstes Gut führt zu einer paradoxen Situation, in der die Menschen, je mehr sie für ihre Gesundheit tun, sich umso kränker fühlen. Dies hat tiefgreifende Auswirkungen auf die gesellschaftliche Vitalität und das individuelle Wohlbefinden.
Zusammengefasst zeigt der Artikel, dass das gegenwärtige Gesundheitssystem eher als „Vitalitätsvernichtungsmaschine“ wirkt, die durch marktwirtschaftliche Prinzipien angetrieben wird. Es fordert eine grundlegende Neuausrichtung hin zu einem Verständnis von Gesundheit, das Balance zwischen Entlastung und Belastung sucht und die natürliche Vitalität des Menschen respektiert.
Quellen:
JAMA Study on Pain Therapy - Link zur Studie
US Depression Diagnosis Study - Link zur Studie
Die systematische Umwandlung von Gesunden in Patienten
Der Wettbewerbsdruck zwingt Pharmaunternehmen und Ärzte dazu, ständig neue Märkte zu erschließen. Dies führt dazu, dass immer mehr gesunde Menschen als krank diagnostiziert werden. Denn wenn der Bereich, in dem sich ein Mensch „gesund“ nennen darf immer weiter schrupft, entstehen auf unnatürliche Weise immer mehr Kranke. Diese Entwicklung lässt sich durch zahlreiche Beispiele belegen:
Schmerztherapie: Trotz zunehmender Wirksamkeit von Schmerztherapien nimmt die Zahl der Schmerzpatienten zu. Therapien erzeugen Erwartungen und Rechtsansprüche auf völlige Schmerzfreiheit, wodurch schon geringe Schmerzen als unerträglich wahrgenommen werden, weil die Patienten durch das System in diese Richtung gelenkt werden.
Diagnosen und Behandlungen: Untersuchungen und prädiktive Gentests führen zu immer mehr Diagnosen. Der Bereich des Gesunden wird kontinuierlich verkleinert, während der des Krankhaften wächst. Beispiele hierfür sind Schlafstörungen, Essstörungen und Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern.
Institutionalisierung von Krankheiten: Die Einführung von Disease-Management-Programmen (DMP) und die Institutionalisierung der Schmerzdiagnostik und -therapie schaffen eigene Märkte, die aus Eigeninteresse weiter expandieren.
Cholesterinwerte: Durch neue Leitlinien, werden die Cholesterinwerte nach und nach gesenkt und damit auf „Knopfdruck“ hunderttausende neue Patienten geschaffen.
5. Bluthochdruck: Hier verhält es sich sehr ähnlich.
Am Beispiel des Cholesterin und des Bluthochdrucks möchte ich genauer darstellen
Leitlinien Cholesterin (vor 2023)
1. Blutdruckzielwerte:
Zielwerte für den Blutdruck lagen unter 140/90 mmHg für die Allgemeinbevölkerung.
Bei Hochrisikopatienten, wie solche mit bestehender Herzerkrankung, wurde empfohlen, den Blutdruck unter 130/80 mmHg zu senken.
2. Therapieempfehlungen:
Beginn der Behandlung oft mit einer Monotherapie, später Wechsel zu einer Kombinationstherapie bei unzureichender Kontrolle.
Besondere Aufmerksamkeit auf Lebensstilmodifikationen wie Diät und körperliche Aktivität.
3. Ältere Patienten:
Für Patienten über 80 Jahren wurden Blutdruckwerte bis 150/90 mmHg als akzeptabel angesehen.
Neue Leitlinien (2023)
1. Blutdruckzielwerte:
Für die allgemeine Bevölkerung bleibt das Ziel unter 140/90 mmHg, jedoch wird bei den meisten Patienten ein Ziel von 120-130 mmHg systolisch und 70-80 mmHg diastolisch empfohlen, um das Risiko für Endorganschäden weiter zu reduzieren.
Eine Senkung unter 120/70 mmHg sollte vermieden werden, da dies unerwünschte Effekte wie Schwindel hervorrufen kann.
2. Therapieempfehlungen:
Eine duale Therapie wird jetzt von Anfang an bevorzugt, typischerweise mit einer Kombination aus ACE-Hemmern oder Sartanen plus Kalziumantagonisten oder Diuretika.
Es wird betont, dass eine individuelle Risikoeinschätzung vor Beginn der medikamentösen Therapie erfolgen soll. Tools wie SCORE2 werden für die Abschätzung des kardiovaskulären Gesamtrisikos empfohlen.
3. Ältere Patienten:
Für über 80-Jährige wird ein Zielwert von 140-150 mmHg systolisch empfohlen. Niedrigere Werte sind möglich, aber Vorsicht ist geboten, wenn diastolische Werte unter 70 mmHg fallen.
Leitlinien Blutdruck (vor 2023)
Blutdruckzielwerte:
Zielwerte für den Blutdruck lagen unter 140/90 mmHg für die Allgemeinbevölkerung.
Bei Hochrisikopatienten, wie solche mit bestehender Herzerkrankung, wurde empfohlen, den Blutdruck unter 130/80 mmHg zu senken.
Ältere Patienten:
Für Patienten über 80 Jahren wurden Blutdruckwerte bis 150/90 mmHg als akzeptabel angesehen.
Neue Leitlinien (2023)
Blutdruckzielwerte:
Für die allgemeine Bevölkerung bleibt das Ziel unter 140/90 mmHg, jedoch wird bei den meisten Patienten ein Ziel von 120-130 mmHg systolisch und 70-80 mmHg diastolisch empfohlen, um das Risiko für Endorganschäden weiter zu reduzieren.
Eine Senkung unter 120/70 mmHg sollte vermieden werden, da dies unerwünschte Effekte wie Schwindel hervorrufen kann.
Ältere Patienten:
Für über 80-Jährige wird ein Zielwert von 140-150 mmHg systolisch empfohlen. Niedrigere Werte sind möglich, aber Vorsicht ist geboten, wenn diastolische Werte unter 70 mmHg fallen.
Die Illusion der Machbarkeit von Gesundheit
Die Idee, dass Gesundheit rational planbar und herstellbar sei, hat sich als fatal erwiesen. Dieser Glaube führt zu mehreren problematischen Entwicklungen:
Hypochondrie: Eine übermäßige Fokussierung auf die eigene Gesundheit kann hypochondrische Tendenzen verstärken, wodurch sich Menschen weniger gesund fühlen.
Gesundheitskonsum: Gesundheit wird zu einem konsumierbaren Gut, das man sich aneignen und vermehren will, anstatt es als Geschenk zu empfinden.
Verlust an Vitalität: Durch die Überbetonung von Gesundheit und die Missachtung des natürlichen Gleichgewichts zwischen Entlastung und Belastung verliert die Gesellschaft ihre Vitalität.
Folgen für die Gesellschaft
Die Kommerzialisierung der Gesundheit hat nicht nur individuelle, sondern auch gesellschaftliche Konsequenzen:
Kostenexplosion: Die Kommerzialisierung führt zu einer Kostenexplosion im Gesundheitssystem, die durch bürokratische Maßnahmen nicht eingedämmt werden kann.
Institutionalisierung von Pflege: Ältere und pflegebedürftige Menschen werden zunehmend in Institutionen abgeschoben, was zur Entfremdung und zur Verstärkung von Ängsten vor dem Alter und dem Tod führt.
Chronische Krankheiten: Immer mehr Menschen leben als chronisch Kranke weiter, was hohe Kosten verursacht und die Ärzte dazu zwingt, chronische Fälle wie akute zu behandeln, was oft ineffektiv ist.
Der Wettbewerb zwingt zur Erschließung neuer Märkte. Das Ziel muss die Umwandlung aller Gesunden in Kranke sein, also in Menschen, die sich möglichst lebenslang sowohl chemisch-physikalisch als auch psychisch für von Experten therapeutisch, rehabilitativ und präventiv manipulierungsbedürftig halten, um „gesund leben“ zu können. Das gelingt im Bereich der körperlichen Erkrankungen schon recht gut, im Bereich der psychischen Störungen aber noch besser, zumal es keinen Mangel an Theorien gibt, nach denen fast alle Menschen nicht gesund sind. Fragwürdig ist die analoge Übertragung des Krankheitsbegriffs vom Körperlichen auf das Psychische. So werden aus den Menschen sogenannte Cash Cows gemacht.
Studien und Erkenntnisse
Mehrere Studien belegen diese Entwicklungen. So zeigt eine Untersuchung aus den USA, dass sich die Zahl der wegen Depression behandelten Menschen zwischen 1987 und 1997 vervierfacht hat, was maßgeblich auf aggressive Werbekampagnen für Antidepressiva zurückzuführen ist. Ähnliche Trends sind auch in anderen Bereichen der psychischen Gesundheit zu beobachten, wo immer neue Diagnosen und Behandlungsmethoden geschaffen werden, um den Markt zu erweitern.
Schlussfolgerung
Die systematische Umwandlung von Gesunden in Patienten ist ein Weg in die falsche Richtung. Die Gesundheitspolitik muss einen Paradigmenwechsel vollziehen. Gesundheit darf nicht länger als Konsumgut betrachtet werden, sondern muss als ein Zustand des selbstvergessenen Lebens verstanden werden. Wir müssen lernen, ein Gleichgewicht zwischen Entlastung und Belastung zu finden und akzeptieren, dass nicht jede Lebenslage optimierbar ist. Nur so kann die Gesellschaft ihre Vitalität zurückgewinnen und wirklich gesund sein.
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